Komplementäre Onkologie: Was hilft wirklich?

Mistel, Selen & Co.: Welche komplementären Therapien bei Krebs wirken und was Betroffene wissen müssen, um informierte Entscheidungen für ihre Lebensqualität zu treffen.

Die Diagnose Krebs ist ein tiefer Einschnitt, der das Leben von einem Moment auf den anderen verändert. Neben den etablierten Wegen der Schulmedizin – Operation, Chemo- und Strahlentherapie – öffnet sich für viele Betroffene und ihre Angehörigen ein riesiges, oft unübersichtliches Feld an zusätzlichen Möglichkeiten: die komplementäre Onkologie. Das Internet, gut gemeinte Ratschläge und persönliche Erfahrungsberichte präsentieren eine Fülle von Optionen, von pflanzlichen Mitteln über spezielle Diäten bis hin zu körperlichen Übungen. Doch was davon ist seriös? Was kann die anstrengende onkologische Behandlung unterstützen und die Lebensqualität verbessern, und wo lauern leere Versprechungen oder gar Gefahren?

Gerade in einer Zeit, die so viel mentale Stärke fordert, ist das Bedürfnis nach Orientierung und aktiver Selbstfürsorge groß. Ähnlich wie ein gesunder Herbst die Natur auf den Winter vorbereitet, suchen viele Patienten nach Wegen, ihren Körper und Geist für die bevorstehenden Herausforderungen zu wappnen. Dieser Artikel möchte eine Brücke bauen: zwischen dem Wunsch nach ganzheitlicher Unterstützung und der Notwendigkeit wissenschaftlicher Evidenz. Er soll eine klare, auf Studien und Leitlinien basierende Orientierung bieten, welche komplementären Ansätze nachweislich helfen können, Symptome zu lindern und das Wohlbefinden zu steigern – immer in Absprache mit dem behandelnden Ärzteteam und als Ergänzung, niemals als Ersatz für die moderne Krebstherapie.

Die Brücke zwischen den Welten: Integrative Onkologie als Konzept

Der Begriff der komplementären Medizin hat sich in den letzten Jahren entscheidend weiterentwickelt. An die Stelle eines unkoordinierten Nebeneinanders von schulmedizinischen und alternativen Verfahren tritt zunehmend das Konzept der integrativen Onkologie. Führende internationale und nationale Fachgesellschaften, wie die Society for Integrative Oncology (SIO) und die American Society of Clinical Oncology (ASCO), haben hierfür einen klaren Rahmen geschaffen [1, 2]. Auch in Deutschland ist dieser Ansatz fest in der Versorgungsrealität verankert, wie die umfassende S3-Leitlinie „Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen“ belegt [3].

Die integrative Onkologie versteht sich nicht als Alternative, sondern als eine evidenzbasierte Ergänzung zur konventionellen Krebstherapie. Das Ziel ist, das Beste aus beiden Welten zu vereinen, um die Lebensqualität der Patienten zu verbessern, Symptome zu lindern und sie in ihrer Gesamtheit – körperlich, seelisch und geistig – zu unterstützen. Im Zentrum steht dabei immer die Sicherheit der Patientinnen und Patienten. Jede ergänzende Maßnahme wird sorgfältig auf ihre Wirksamkeit, ihre Risiken und mögliche Wechselwirkungen mit der laufenden Krebstherapie geprüft. Dieser Ansatz schafft eine Brücke des Vertrauens und ermöglicht es, traditionelles Wissen und moderne Wissenschaft zum Wohle der Betroffenen zu verbinden.

Kraft aus dem Inneren: Mentale Stärke durch Körper und Geist

Die Belastungen einer Krebserkrankung sind nicht nur körperlicher, sondern auch enormer seelischer Natur. Angst, Depression, Erschöpfung und Schlafstörungen sind häufige Begleiter. Hier setzen die Mind-Body-Verfahren an, die in den letzten Jahren eine beeindruckende wissenschaftliche Anerkennung erfahren haben. Sie zielen darauf ab, über die Verbindung von Körper und Geist die Selbstheilungskräfte zu aktivieren und das Wohlbefinden zu steigern. An vorderster Front stehen hier Yoga, Meditation und Akupunktur, deren Wirksamkeit durch hochrangige Leitlinien der SIO und ASCO bestätigt wird [4, 5].

Yoga, eine jahrtausendealte Praxis, die Körperübungen, Atemtechniken und Meditation kombiniert, hat sich als besonders wirksam erwiesen. Zahlreiche Studien belegen, dass regelmäßiges Yoga die Lebensqualität von Krebspatienten signifikant verbessern kann [6]. Es hilft nicht nur, Fatigue, das lähmende Erschöpfungssyndrom, zu reduzieren, sondern kann auch depressive Verstimmungen lindern und die Schlafqualität verbessern. Eine Untersuchung des MD Anderson Cancer Center zeigte sogar, dass Yoga die Stresshormonlevel regulieren kann [7]. Ähnlich positive Effekte zeigt die Meditation, insbesondere die Achtsamkeitsmeditation. Sie schult die Fähigkeit, im Hier und Jetzt zu sein und den oft belastenden Gedanken und Gefühlen mit einer annehmenden Haltung zu begegnen. Dies kann nachweislich die psychische Belastung reduzieren und die Lebensqualität steigern [8].

Ein weiteres Verfahren mit exzellenter Studienlage ist die Akupunktur. Insbesondere bei der Linderung von Chemotherapie-induzierter Übelkeit und Erbrechen (CINV) hat sie sich als äußerst wirksame Ergänzung zu den Standardmedikamenten etabliert. Eine große Zahl an randomisierten kontrollierten Studien und Metaanalysen bestätigt, dass Akupunktur die Anfälle von Übelkeit und Erbrechen deutlich reduzieren kann [9, 10]. Auch bei anderen belastenden Nebenwirkungen wie Schmerzen oder der durch manche Chemotherapien ausgelösten peripheren Neuropathie gibt es vielversprechende Hinweise auf eine Linderung durch Akupunktur. Wichtig ist hierbei stets, dass die Behandlung von qualifizierten Therapeuten durchgeführt wird, die Erfahrung in der Onkologie haben.

Pflanzenkraft und Spurenelemente: Mistel und Selen im Fokus

Neben den Mind-Body-Verfahren genießen auch bestimmte Substanzen aus der Naturheilkunde großes Interesse. Zwei der am häufigsten diskutierten sind die Mistel und das Spurenelement Selen. Beide sind in der aktuellen deutschen S3-Leitlinie verankert, ihre Evidenz und ihr Anwendungsbereich unterscheiden sich jedoch deutlich.

Die Misteltherapie hat im deutschsprachigen Raum eine lange Tradition und ist ein fester Bestandteil der anthroposophischen Medizin. Die Idee dahinter ist, dass Extrakte der Pflanze das Immunsystem stimulieren und die Lebensqualität verbessern können. Lange Zeit basierte die Anwendung vor allem auf Erfahrungswissen, doch in den letzten Jahren hat sich die wissenschaftliche Datenlage verbessert. Eine 2023 in den USA durchgeführte Phase-I-Studie an Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittenen, therapieresistenten Krebserkrankungen am renommierten Johns Hopkins Kimmel Cancer Center lieferte wichtige Erkenntnisse [11]. Die intravenöse Gabe von Mistelextrakten erwies sich als sicher und gut verträglich. Mehr noch: Bei einigen Teilnehmenden kam es zu einer Stabilisierung der Erkrankung und einer spürbaren Verbesserung der Lebensqualität. Es ist jedoch entscheidend zu betonen, dass dies keine Studie zur Heilung von Krebs war. Die Misteltherapie wird daher von Leitlinien nicht als Krebs-bekämpfende Therapie, sondern als eine unterstützende Maßnahme zur Verbesserung des Wohlbefindens und zur Linderung von Nebenwirkungen empfohlen. Sie sollte ausschließlich nach ärztlicher Beratung und durch geschultes Personal erfolgen.

Auch Selen, ein essenzielles Spurenelement, wird in der komplementären Onkologie eingesetzt. Selen ist an vielen wichtigen Körperfunktionen beteiligt, unter anderem an der Funktion des Immunsystems und dem Schutz der Zellen vor oxidativem Stress. Einige Studien deuten darauf hin, dass ein Selenmangel während einer Krebstherapie mit stärkeren Nebenwirkungen einhergehen kann. Die gezielte Gabe von Selen, meist in Form von Natriumselenit, soll helfen, die durch Chemo- oder Strahlentherapie verursachten Schleimhautentzündungen (Mukositis) oder Lymphödeme zu reduzieren. Die Evidenz hierfür ist jedoch weniger stark als bei den Mind-Body-Verfahren. Die S3-Leitlinie bewertet die Datenlage als heterogen und gibt eine offene Empfehlung („kann erwogen werden“). Eine unkontrollierte Einnahme ist nicht ratsam, da hohe Dosen Selen toxisch sein können. Eine Anwendung sollte daher nur bei nachgewiesenem Mangel und unter ärztlicher Kontrolle stattfinden.

Zwischen Hype und Evidenz: Vitamin D und Omega-3

Kaum ein Vitamin wird so intensiv mit Krebs in Verbindung gebracht wie Vitamin D. Die Vorstellung, dass ein Mangel das Krebsrisiko erhöhen könnte, hat zu einem wahren Hype um die Einnahme von Vitamin-D-Präparaten geführt. Doch was sagt die Wissenschaft? Hier ist die Datenlage, basierend auf den größten und hochwertigsten Studien, ernüchternd. Die VITAL-Studie, eine massive Untersuchung mit über 25.000 Teilnehmenden, zeigte nach fünf Jahren keinen Unterschied in der Krebsneuerkrankungsrate zwischen der Gruppe, die täglich 2000 IE Vitamin D einnahm, und der Placebo-Gruppe [12]. Auch andere große Studien konnten keine präventive Wirkung nachweisen. Das National Cancer Institute (NCI) fasst zusammen, dass die meisten randomisierten kontrollierten Studien keinen Nutzen von Vitamin-D-Präparaten zur Reduzierung des Krebsrisikos finden konnten [13].

Etwas anders, aber immer noch uneinheitlich, sieht es bei der Krebssterblichkeit aus. Einige Meta-Analysen deuten auf eine leicht reduzierte Sterblichkeit bei Patientinnen und Patienten hin, die Vitamin D einnehmen, doch die großen Einzelstudien konnten dies oft nicht bestätigen. Es bleibt die Hypothese, dass eine Supplementierung vor allem bei einem nachgewiesenen Mangel von Nutzen sein könnte. Für eine generelle Empfehlung zur Krebsprävention oder -behandlung reicht die Evidenz jedoch bei Weitem nicht aus. Ähnliches gilt für Omega-3-Fettsäuren. Auch hier konnte die VITAL-Studie keine krebspräventive Wirkung feststellen. Zwar sind Vitamin D und Omega-3 für die allgemeine Gesundheit wichtig, als „Krebsmittel“ taugen sie nach aktuellem Wissensstand jedoch nicht.

Der wichtigste Grundsatz: Sicherheit und offene Kommunikation

Die Welt der komplementären Onkologie ist vielfältig und verlockend. Doch bei allen Chancen ist der oberste Grundsatz immer die Sicherheit. Die größte Gefahr liegt nicht unbedingt in den einzelnen Substanzen selbst, sondern in zwei Aspekten: dem Potenzial für negative Wechselwirkungen mit der konventionellen Krebstherapie und der falschen Hoffnung, eine Krebserkrankung allein mit komplementären Mitteln heilen zu können. Bestimmte pflanzliche Präparate können beispielsweise die Wirkung einer Chemotherapie abschwächen oder deren Nebenwirkungen unvorhersehbar verstärken. Andere Substanzen können die Blutgerinnung beeinflussen, was vor einer Operation riskant ist.

Aus diesem Grund ist eine offene und ehrliche Kommunikation mit dem behandelnden Onkologen und dem gesamten Behandlungsteam unerlässlich. Es ist kein Zeichen von Misstrauen, sondern von Verantwortung, alle eingenommenen Präparate, einschließlich Vitaminen und Tees, und alle angewendeten Therapien anzusprechen. Nur so kann das Team mögliche Risiken bewerten und eine wirklich integrative, sichere und auf die individuelle Situation abgestimmte Behandlung gewährleisten. Seriöse komplementärmedizinische Angebote werden diesen Dialog immer aktiv fördern und niemals dazu raten, eine konventionelle Therapie abzubrechen oder zu verzögern.

Fazit: Informiert entscheiden, Lebensqualität gewinnen

Die komplementäre Onkologie hat sich von einer Grauzone zu einem ernstzunehmenden Feld der Medizin entwickelt, das von führenden Krebszentren und Fachgesellschaften weltweit in strukturierten Programmen angeboten wird. Die Evidenz zeigt klar, dass bestimmte Ansätze einen wertvollen Beitrag leisten können, um die schwierige Zeit der Krebstherapie besser zu bewältigen. Insbesondere Mind-Body-Verfahren wie Yoga, Meditation und Akupunktur haben sich als hochwirksam erwiesen, um die Lebensqualität zu verbessern, Stress und Ängste abzubauen und quälende Nebenwirkungen wie Übelkeit zu lindern. Auch für die Misteltherapie gibt es zunehmend Hinweise auf eine Verbesserung des Wohlbefindens.

Entscheidend ist jedoch eine realistische Erwartungshaltung und eine kritische Bewertung der Informationsquellen. Es gibt keine Wundermittel. Der wahre Wert der komplementären Onkologie liegt nicht in Heilungsversprechen, sondern in der Stärkung des Körpers und des Geistes, um die konventionelle Therapie bestmöglich zu unterstützen. Indem Betroffene informierte Entscheidungen treffen und diese eng mit ihrem Ärzteteam abstimmen, können sie aktiv dazu beitragen, ihre Resilienz zu fördern und ein Stück Kontrolle und Lebensqualität in einer herausfordernden Zeit zurückzugewinnen. Der Weg durch den Herbst des Lebens mag stürmisch sein, doch mit der richtigen Unterstützung lässt sich auch in dieser Phase Kraft und Zuversicht finden.

Hinweis: Dieser Beitrag informiert und ersetzt keine medizinische Beratung oder Behandlung.

Quellen & Forschungsstand

  1. Mao, J. J., et al. (2022). Integrative oncology: Addressing the global challenges of cancer prevention and treatment. CA: A Cancer Journal for Clinicians. Eine umfassende Übersichtsarbeit, die den Rahmen für die globale integrative Onkologie absteckt und die Notwendigkeit betont, traditionelle, komplementäre und konventionelle Medizin zum Wohle der Patienten zu verbinden. (DOI: 10.3322/caac.21706)
  2. Leitlinienprogramm Onkologie (2024). S3-Leitlinie Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen, Version 2.0. Die offizielle, evidenzbasierte Leitlinie für Ärzte und Patienten im deutschsprachigen Raum. Sie bewertet eine Vielzahl komplementärer Verfahren und gibt konkrete Empfehlungen für die Praxis. (AWMF-Registernr.: 032-055OL, abrufbar unter www.leitlinienprogramm-onkologie.de)
  3. Mao, J. J., et al. (2022). Integrative Medicine for Pain Management in Oncology: Society for Integrative Oncology–ASCO Guideline. Journal of Clinical Oncology. Eine gemeinsame Leitlinie der zwei weltweit führenden Fachgesellschaften, die den Einsatz von Akupunktur und anderen integrativen Verfahren zur Schmerzbehandlung bei Krebspatienten auf Basis starker wissenschaftlicher Evidenz empfiehlt. (DOI: 10.1200/JCO.22.01357)
  4. Carlson, L. E., et al. (2023). Integrative Oncology Care of Symptoms of Anxiety and Depression in Adults with Cancer: Society for Integrative Oncology–ASCO Guideline. Journal of Clinical Oncology. Diese SIO-ASCO-Leitlinie bestätigt die Wirksamkeit von Mind-Body-Therapien wie Meditation und Yoga zur Behandlung von Angst und Depression bei Krebspatienten und empfiehlt deren Integration in die Versorgung. (DOI: 10.1200/JCO.23.00857)
  5. Paller, C. J., et al. (2023). A phase I trial of intravenous Helixor M in patients with treatment-refractory solid tumors. Cancer Research Communications. Die erste US-Phase-I-Studie zur intravenösen Misteltherapie, durchgeführt am Johns Hopkins Kimmel Cancer Center. Sie belegt die Sicherheit des Verfahrens und zeigt positive Signale bezüglich Krankheitskontrolle und Lebensqualität bei stark vorbehandelten Patienten. (DOI: 10.1158/2767-9764.CRC-22-0328)
  6. Manson, J. A. E., et al. (2019). Vitamin D Supplements and Prevention of Cancer and Cardiovascular Disease. New England Journal of Medicine. Die wegweisende VITAL-Studie, eine der größten randomisierten Studien ihrer Art, die keinen Nutzen von Vitamin-D-Supplementierung zur Prävention von Krebs bei der Allgemeinbevölkerung feststellen konnte. (DOI: 10.1056/NEJMoa1809944)
  7. Garcia, M. K., et al. (2013). Systematic review of acupuncture in cancer care: a synthesis of the evidence. Journal of Clinical Oncology. Eine hochzitierte systematische Übersichtsarbeit, die die starke Evidenz für den Einsatz von Akupunktur zur Kontrolle von Chemotherapie-induzierter Übelkeit und Erbrechen zusammenfasst. (DOI: 10.1200/JCO.2012.43.5818)