Jedes Jahr im November, wenn die „Movember“-Kampagne weltweit das Bewusstsein für Männergesundheit schärft, rückt ein Thema unweigerlich in den Fokus: die Früherkennung von Prostatakrebs. Es ist die häufigste Krebserkrankung bei Männern in Deutschland, mit rund 75.000 Neudiagnosen allein im Jahr 2022, wie Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) zeigen [1]. Angesichts dieser Zahlen erscheint die Vorsorge als ein Gebot der Vernunft. Doch die zentrale Frage, ob ein flächendeckendes Screening mittels des sogenannten PSA-Tests mehr nützt oder schadet, spaltet seit Jahrzehnten die Fachwelt. Ist der Test ein potenzieller Lebensretter oder führt er vor allem zu Panikmache, unnötigen Diagnosen und belastenden Behandlungen? Die Antwort liegt, wie so oft in der Medizin, nicht in einem einfachen Ja oder Nein, sondern in einer sorgfältigen Abwägung von Chancen und Risiken – eine Abwägung, die jeder Mann für sich selbst treffen muss.
Das Leitmotiv dieses Monats, „Männergesundheit & Immunsystem stärken“, geht über die rein biologische Abwehr von Krankheitserregern hinaus. Es bedeutet auch, die eigene Gesundheitskompetenz zu stärken, informierte Entscheidungen zu treffen und so die Kontrolle über das eigene Wohlbefinden zu behalten. Die Debatte um die Prostata-Vorsorge ist ein Paradebeispiel dafür, wie entscheidend dieses Wissen ist.
Die Last der Zahlen: Prostatakrebs in Deutschland
Um die Dimension der Herausforderung zu verstehen, hilft ein Blick auf die epidemiologischen Daten. Prostatakrebs ist nicht nur die häufigste, sondern auch eine der häufigsten krebsbedingten Todesursachen bei Männern, mit etwa 12.000 Todesfällen pro Jahr in Deutschland [1]. Gleichzeitig ist die Prognose oft sehr gut. Die relative 5-Jahres-Überlebensrate liegt bei etwa 90%, was bedeutet, dass die meisten Männer die Erkrankung überleben. Dies liegt auch daran, dass viele Prostatatumore sehr langsam wachsen und für den Betroffenen zu Lebzeiten nie eine Gefahr dargestellt hätten. Genau diese biologische Eigenschaft des Tumors macht die Früherkennung so kompliziert: Wie unterscheidet man die aggressiven, potenziell tödlichen „Tiger“ von den harmlosen, schlafenden „Katzen“?
Das Werkzeug im Zentrum: Der PSA-Test
Das zentrale Instrument der Früherkennung ist der Test auf das Prostata-spezifische Antigen (PSA). Dieses Eiweiß wird von den Zellen der Prostata gebildet, um die Samenflüssigkeit zu verflüssigen. Ein erhöhter PSA-Wert im Blut kann ein Hinweis auf Prostatakrebs sein, da Tumorzellen tendenziell mehr PSA freisetzen. Das Problem: Der Test ist notorisch unspezifisch. Auch eine gutartige Vergrößerung der Prostata, eine Entzündung (Prostatitis) oder sogar mechanischer Druck wie nach einer langen Fahrradtour können den Wert in die Höhe treiben. Systematische Übersichtsarbeiten und Meta-Analysen bestätigen immer wieder die hohe Sensitivität, aber geringe Spezifität des Tests [2, 3]. Das bedeutet, er findet viele potenzielle Krebserkrankungen, aber ein hoher Anteil der positiven Ergebnisse ist falscher Alarm oder führt zur Entdeckung klinisch unbedeutender Tumore.
Die Leitplanken der Medizin: Was die neuen Leitlinien sagen
Angesichts dieser Unsicherheiten haben medizinische Fachgesellschaften ihre Empfehlungen in den letzten Jahren immer wieder angepasst. Die aktuellste deutsche S3-Leitlinie Prostatakarzinom, eine der weltweit angesehensten, hat 2025 eine bemerkenswerte Kehrtwende vollzogen [4]. Sie empfiehlt die jahrzehntelang praktizierte digital-rektale Untersuchung (DRU), also die Tastuntersuchung, nicht mehr als alleiniges Instrument zur Früherkennung. Ihre Aussagekraft ist zu gering. Stattdessen rückt der PSA-Test ins Zentrum, aber mit einer entscheidenden Einschränkung: Er soll Männern ab 45 Jahren (oder 40 bei familiärer Vorbelastung) nur nach einer umfassenden, ergebnisoffenen Beratung über die Vor- und Nachteile angeboten werden. Das Ziel ist die „informierte Entscheidung“. Der Mann soll nicht zur Vorsorge überredet werden, sondern auf Basis von Fakten selbst entscheiden, ob er das Screening für sich in Anspruch nehmen möchte.
Kontroversen & offene Fragen
Die wissenschaftliche Debatte um den Nutzen des PSA-Screenings wird mit harten Bandagen geführt und stützt sich vor allem auf große, randomisierte kontrollierte Studien. Die bedeutendste davon ist die „European Randomized Study of Screening for Prostate Cancer“ (ERSPC). Nach einem Beobachtungszeitraum von 16 Jahren zeigte die Studie eine Reduktion der Prostatakrebs-Sterblichkeit um 20% in der Screening-Gruppe [5]. Kürzlich veröffentlichte Daten nach einem 23-jährigen Follow-up – einer der längsten Beobachtungszeiträume in der Krebsforschung – beziffern die Reduktion immer noch auf 13% [6]. Das klingt beeindruckend, doch was bedeuten diese Zahlen in der Praxis?
Um einen Todesfall durch Prostatakrebs zu verhindern, mussten in der ERSPC-Studie über einen Zeitraum von 13 Jahren 781 Männer zum Screening eingeladen und 27 Diagnosen gestellt werden. Diese Zahlen verdeutlichen das zentrale Dilemma: die Überdiagnose. Viele der 27 diagnostizierten Tumore wären ohne Screening nie aufgefallen und hätten keine Behandlung erfordert. Kritiker wie das deutsche Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) argumentieren daher, dass der potenzielle Nutzen für den Einzelnen (eine geringe Reduktion des Sterberisikos) die Nachteile für viele (unnötige Diagnosen und Behandlungen) nicht aufwiegt [7].
Die Folgen einer Übertherapie sind gravierend. Eine Operation oder Bestrahlung der Prostata kann zu dauerhafter Inkontinenz und/oder Impotenz führen – massive Einschnitte in die Lebensqualität, die besonders tragisch sind, wenn die Behandlung medizinisch gar nicht notwendig gewesen wäre. Die offene Frage ist daher nicht mehr ob, sondern wie man die Früherkennung verbessern kann. Die Forschung konzentriert sich auf eine intelligentere, risikoadaptierte Strategie. Anstatt alle Männer über einen Kamm zu scheren, geht es darum, diejenigen mit einem hohen Risiko für einen aggressiven Tumor zu identifizieren. Moderne Ansätze kombinieren den PSA-Wert mit weiteren Faktoren wie dem Alter, der Prostatagröße, genetischen Risikomarkern und vor allem der bildgebenden Diagnostik mittels multiparametrischer MRT (mpMRT) vor einer Biopsie. Dies kann helfen, unnötige Gewebeproben zu vermeiden und die Entdeckung klinisch unbedeutender Tumore zu reduzieren.
Fazit
Die Prostata-Vorsorge im Jahr 2025 ist kein standardisierter Check-up mehr, sondern ein hochgradig individualisierter Prozess. Die Ära des unreflektierten „Gehen Sie mal zur Vorsorge“ ist vorbei. An ihre Stelle tritt die Notwendigkeit eines tiefgehenden Gesprächs zwischen Arzt und Patient, das die persönliche Lebenssituation, die Risikobereitschaft und die Werte des Mannes berücksichtigt. Es geht darum, die eigene Gesundheit aktiv zu managen. Sich im „Movember“ mit der eigenen Verletzlichkeit auseinanderzusetzen, bedeutet nicht, in Angst zu verfallen, sondern sich das Wissen anzueignen, um souverän zu entscheiden. Die Stärkung der eigenen Gesundheitskompetenz ist vielleicht der wichtigste Beitrag zur Männergesundheit – und ein starkes Immunsystem gegen die Flut aus Halbwissen und Panikmache.
Hinweis: Dieser Beitrag informiert und ersetzt keine medizinische Beratung oder Behandlung.
Quellen & Forschungsstand
- Robert Koch-Institut (RKI) – Krebs in Deutschland für 2019/2020 (veröffentlicht 2023): Umfassender Bericht zur Krebsepidemiologie in Deutschland. Belegt, dass Prostatakrebs die häufigste Krebserkrankung bei Männern ist, und liefert die Basisdaten zu Neuerkrankungen und Mortalität. Link
- Ilic D, Djulbegovic M, et al. – Prostate cancer screening with prostate-specific antigen (PSA) test: a systematic review and meta-analysis (BMJ, 2018): Eine hochzitierte Cochrane-Metaanalyse, die die Evidenz zum PSA-Screening zusammenfasst und die Problematik von Überdiagnose und Überbehandlung detailliert darlegt. Link
- Merriel SWD, Pocock L, et al. – Systematic review and meta-analysis of the diagnostic accuracy of prostate-specific antigen (PSA) for the detection of prostate cancer in symptomatic patients (BMC Medicine, 2022): Bestätigt in einer neueren Meta-Analyse die hohe Sensitivität, aber geringe Spezifität des PSA-Tests und unterstreicht die diagnostischen Limitationen. Link
- S3-Leitlinie Prostatakarzinom (Version 8.1, 2025): Die maßgebliche deutsche Leitlinie, die die Abkehr von der Tastuntersuchung als alleinige Methode und die Hinwendung zur informierten Entscheidung beim PSA-Screening festschreibt. Link
- Schröder FH, Hugosson J, et al. – Screening and prostate-cancer mortality in a randomized European study (NEJM, 2014): Die Publikation der 13-Jahres-Ergebnisse der ERSPC-Studie, die eine signifikante Reduktion der Mortalität nachwies und die Basis für die Nutzenbewertung des Screenings bildet.
- Wise J. – PSA screening cuts cancer mortality by 13%, study shows… (BMJ, 2025): Berichtet über die neuesten 23-Jahres-Follow-up-Daten der ERSPC-Studie, die im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurden und den langfristigen, wenn auch moderaten, Nutzen des Screenings bestätigen. Link
- Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) – PSA-Screening: Nutzen wiegt den Schaden nicht auf (2020): Abschlussbericht der deutschen Gesundheitsbehörde, die zu einem negativen Fazit in der Nutzen-Schaden-Abwägung eines allgemeinen Screenings kommt. Link