Was ist der Herbst-Blues wirklich?

Wenn die Tage kürzer werden und das Licht schwindet, fühlen sich viele Menschen müde und niedergeschlagen. Doch was, wenn dieses Stimmungstief mehr ist als nur eine vorübergehende Laune? Wir erklären, was hinter der saisonal-affektiven Störung (SAD) steckt und wie sie sich von einer echten Depression unterscheidet.

Die Blätter fallen, die Temperaturen sinken, und die Abende werden länger – für viele Menschen beginnt damit eine Zeit der Gemütlichkeit. Doch für einen Teil der Bevölkerung markiert der Herbst auch den Beginn einer Phase der inneren Dunkelheit. Sie fühlen sich antriebslos, haben ein erhöhtes Schlafbedürfnis und einen Heißhunger auf Kohlenhydrate. Dieses Phänomen ist umgangssprachlich als „Herbst-Blues“ oder „Winterdepression“ bekannt. In der Fachwelt spricht man von der saisonal-affektiven Störung, kurz SAD. Es handelt sich dabei nicht um eine bloße Empfindlichkeit gegenüber dem Wetter, sondern um eine ernstzunehmende, wiederkehrende depressive Episode, die an eine bestimmte Jahreszeit gebunden ist.

Was ist die saisonal-affektive Störung?

Die saisonal-affektive Störung ist im internationalen Klassifikationssystem DSM-5 nicht als eigenständige Krankheit aufgeführt, sondern wird als ein spezifischer Zusatz – ein sogenannter „Specifier“ – für eine wiederkehrende Major Depression oder eine bipolare Störung definiert [1]. Die Diagnose wird gestellt, wenn depressive Episoden über mindestens zwei aufeinanderfolgende Jahre hinweg regelmäßig im Herbst oder Winter beginnen und im Frühling wieder vollständig abklingen. Entscheidend ist, dass diese saisonalen Episoden die nicht-saisonalen im Laufe des Lebens deutlich überwiegen. Die Symptome ähneln denen einer typischen Depression, umfassen also gedrückte Stimmung, Interessenverlust und Antriebslosigkeit. Charakteristisch für die Winter-SAD sind jedoch oft atypische Symptome: ein gesteigertes Schlafbedürfnis (Hypersomnie), Heißhunger auf kohlenhydratreiche Speisen, eine damit verbundene Gewichtszunahme und eine ausgeprägte Energielosigkeit, die als „bleierne Schwere“ empfunden wird. Diese Symptome können die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen und stellen eine Herausforderung für die mentale Stärke in der dunklen Jahreszeit dar.

Was zeigt die Evidenz?

Die Forschung hat in den letzten Jahrzehnten deutliche Belege für die Existenz und die Behandlung der SAD zusammengetragen. Die Prävalenz variiert stark je nach geografischer Lage. In sonnenärmeren, äquatorfernen Regionen ist sie deutlich höher. Studien aus Europa zeigen, dass etwa 2-8% der Bevölkerung betroffen sind, wobei in deutschsprachigen Ländern von rund 2,5% ausgegangen wird [2, 3]. Frauen sind häufiger betroffen als Männer, und die Störung beginnt meist im jungen Erwachsenenalter.

Als Hauptursache wird eine Störung des zirkadianen Rhythmus, unserer inneren Uhr, vermutet, die durch den Lichtmangel im Herbst und Winter aus dem Takt gerät. Dies beeinflusst die Produktion der Hormone Melatonin (das den Schlaf steuert) und Serotonin (das die Stimmung reguliert). Die wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit von Behandlungen ist solide. Eine umfassende Netzwerk-Metaanalyse aus dem Jahr 2024, die 21 randomisierte kontrollierte Studien mit über 1000 Teilnehmenden auswertete, kam zu dem Schluss, dass die Lichttherapie die wirksamste Erstlinienbehandlung ist [4]. Sie zeigte eine signifikant bessere Wirkung als Placebo oder andere Interventionen. Auch die deutsche S3-Leitlinie zur unipolaren Depression empfiehlt die Lichttherapie als Mittel der ersten Wahl bei SAD [5]. Darüber hinaus haben sich auch spezifische Antidepressiva (insbesondere SSRIs) und die kognitive Verhaltenstherapie als wirksam erwiesen, was die Bedeutung einer guten Psychohygiene unterstreicht.

Praxisbox: Was Sie selbst für einen gesunden Herbst tun können

  • Nutzen Sie das Tageslicht: Verbringen Sie täglich mindestens 30 Minuten im Freien, auch bei bewölktem Himmel. Ein Spaziergang in der Mittagspause kann bereits helfen, die innere Uhr zu synchronisieren.
  • Bewegen Sie sich regelmäßig: Ausdauersport wie Laufen, Radfahren oder Schwimmen kann die Stimmung nachweislich verbessern und ist ein wichtiger Baustein für mentale Stärke.
  • Achten Sie auf eine ausgewogene Ernährung: Widerstehen Sie dem Heißhunger auf Zucker und einfache Kohlenhydrate. Komplexe Kohlenhydrate, viel Gemüse und Omega-3-Fettsäuren unterstützen das seelische Gleichgewicht.
  • Strukturieren Sie Ihren Tag: Ein regelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus, feste Essenszeiten und geplante Aktivitäten helfen, den zirkadianen Rhythmus zu stabilisieren.

Sicherheitsbox: Wann Sie professionelle Hilfe suchen sollten

  • Grenzen der Selbsthilfe: Wenn die Symptome über eine leichte Niedergeschlagenheit hinausgehen, Ihren Alltag stark beeinträchtigen oder Sie sich sozial zurückziehen, ist eine ärztliche oder psychotherapeutische Abklärung unerlässlich.
  • Abgrenzung zur Depression: Nur ein Facharzt oder Psychotherapeut kann sicher feststellen, ob es sich um eine SAD oder eine nicht-saisonale Depression handelt, die möglicherweise eine andere Behandlung erfordert.
  • Vorsicht bei der Lichttherapie: Obwohl die Lichttherapie als sehr sicher gilt, sollten Personen mit bestimmten Augenerkrankungen (z.B. Retinopathie) vor der Anwendung ärztlichen Rat einholen.
  • Keine Selbstmedikation: Nehmen Sie keine Antidepressiva oder andere Medikamente ohne ärztliche Verordnung ein. Eine professionelle Diagnose ist die Grundlage für jede sichere und wirksame Therapie.

Fazit

Der Herbst-Blues ist mehr als nur eine schlechte Laune. Als saisonal-affektive Störung ist er eine anerkannte Form der Depression, die das Wohlbefinden im Herbst und Winter erheblich beeinträchtigen kann. Die gute Nachricht ist, dass die SAD gut erforscht und behandelbar ist. Die Evidenz zeigt klar, dass vor allem die Lichttherapie, aber auch Bewegung und eine bewusste Lebensführung wirksame Strategien sind, um die mentale Stärke zu fördern und gut durch die dunkle Jahreszeit zu kommen. Wichtig ist, die Symptome ernst zu nehmen und bei starker Belastung nicht zu zögern, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Denn ein gesunder Herbst ist auch eine Frage der seelischen Balance.

Hinweis: Dieser Beitrag informiert und ersetzt keine medizinische Beratung oder Behandlung.

Quellen & Forschungsstand

  1. Munir, S., Gunturu, S., & Abbas, M. (2024). Seasonal Affective Disorder. StatPearls [Internet]. Eine aktuelle Übersichtsarbeit, die Definition, Epidemiologie, Pathophysiologie und diagnostische Kriterien der SAD zusammenfasst. Sie betont die Klassifizierung als Specifier für affektive Störungen. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK568745/
  2. Galima, S. V., Vogel, S. R., & Kowalski, A. W. (2020). Seasonal Affective Disorder: Common Questions and Answers. American Family Physician, 102(11), 668-672. Ein praxisorientierter Artikel, der Diagnose- und Behandlungsleitlinien für Hausärzte zusammenfasst und die Evidenz für Lichttherapie, Pharmakotherapie und CBT darlegt. https://www.aafp.org/pubs/afp/issues/2020/1201/p668.html
  3. Nussbaumer-Streit, B., et al. (2017). Prevention of seasonal affective disorder in daily clinical practice: results of a survey in German-speaking countries. BMC Psychiatry, 17(1), 274. Diese Studie gibt Einblicke in die Prävalenz und das Management von SAD im deutschsprachigen Raum und nennt eine Prävalenz von ca. 2,5%. https://bmcpsychiatry.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12888-017-1403-2
  4. Chen, Z. W., et al. (2024). Treatment measures for seasonal affective disorder: A network meta-analysis. Journal of Affective Disorders, 350, 531-536. Eine aktuelle Netzwerk-Metaanalyse, die die hohe Wirksamkeit der Lichttherapie als Erstlinienbehandlung bei SAD bestätigt, jedoch auf die noch niedrige Qualität vieler Studien hinweist. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/38220102/
  5. AWMF, DGPPN, et al. (2022). Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression (S3). AWMF-Register Nr. nvl-005. Die offizielle deutsche Leitlinie, die Lichttherapie als Therapie der ersten Wahl bei SAD empfiehlt und den evidenzbasierten Konsens in Deutschland darstellt. https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/nvl-005