Was ist die Misteltherapie?
Die Misteltherapie ist ein Behandlungsverfahren, das auf Extrakten der weißbeerigen Mistel (Viscum album L.) basiert. Sie ist tief in der anthroposophischen Medizin verwurzelt, die Anfang des 20. Jahrhunderts von Rudolf Steiner begründet wurde. Steiner sah in der Mistel, einer Pflanze, die parasitär auf Bäumen wächst und ihren eigenen Rhythmus unabhängig von den Jahreszeiten lebt, eine Analogie zum unkontrollierten Wachstum von Tumoren. Aus dieser philosophischen Betrachtung heraus entstand die Idee, ihre Extrakte zur Behandlung von Krebs einzusetzen. Heute werden verschiedene Präparate, wie zum Beispiel Iscador oder AbnobaViscum, hergestellt, deren Zusammensetzung je nach Wirtsbaum (z. B. Apfelbaum, Kiefer, Eiche) und Herstellungsverfahren variiert. Die Anwendung erfolgt in der Regel als subkutane Injektion, also als Spritze unter die Haut, die oft vom Patienten selbst durchgeführt werden kann.
Was zeigt die Evidenz?
Die wissenschaftliche Bewertung der Misteltherapie ist komplex und von vielen Kontroversen geprägt. Während sie in der Praxis weit verbreitet ist, ist die Studienlage uneinheitlich und wird von Experten kritisch diskutiert. Ein zentraler Punkt der Kritik ist die oft mangelhafte methodische Qualität vieler älterer Studien, etwa durch fehlende Verblindung oder kleine Patientengruppen, was die Aussagekraft der Ergebnisse einschränkt [1, 2].
Ein Überlebenvorteil durch die Misteltherapie konnte in qualitativ hochwertigen, randomisierten und kontrollierten Studien bisher nicht überzeugend nachgewiesen werden. Systematische Übersichtsarbeiten kamen zu dem Schluss, dass Studien, die einen solchen Vorteil zeigten, oft methodische Schwächen aufwiesen [2]. Anders sieht es bei der Lebensqualität aus, dem wohl am besten untersuchten Aspekt. Eine umfassende Meta-Analyse aus dem Jahr 2020, die Daten aus zahlreichen Studien zusammenfasste, fand einen statistisch signifikanten und klinisch relevanten positiven Effekt auf die Lebensqualität von Krebspatienten [3]. Patienten berichteten unter der Therapie seltener über Schmerzen, Übelkeit und Erschöpfung (Fatigue). Diese Effekte können zur mentalen Stärke beitragen, indem sie die Belastungen durch die Krankheit und deren Standardtherapien lindern. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass auch die Autoren dieser Analyse auf das hohe Risiko für Verzerrungen (Bias) in den ausgewerteten Studien hinweisen. Die Wirkung auf das Immunsystem, eine der postulierten Hauptwirkungen, wird ebenfalls intensiv erforscht, was die Therapie in die Nähe moderner Ansätze wie der Immuntherapie rückt, jedoch sind die genauen Mechanismen und der klinische Nutzen noch nicht abschließend geklärt.
Wirkungsbereich
Überleben
Evidenzbewertung: Rot/Gelb – Kein klarer Beleg in hochwertigen Studien
Anmerkungen: Positive Ergebnisse meist in Studien mit methodischen Mängeln.
Lebensqualität
Grün/Gelb: Positive Effekte in Meta-Analysen belegt
Anmerkungen: Linderung von Symptomen wie Fatigue, Schmerz, Übelkeit. Studienqualität oft eingeschränkt.
Nebenwirkungsreduktion
Gelb: Hinweise vorhanden, aber nicht eindeutig belegt
Anmerkungen: Evidenz zur Minderung von Chemo-Nebenwirkungen ist schwach.
Immunstimulation
Gelb: In Labor- und klinischen Studien nachgewiesen
Anmerkungen: Klinische Relevanz und genaue Mechanismen sind Gegenstand aktueller Forschung.
Praxisbox: Die Misteltherapie sicher anwenden
- Ärztliche Begleitung: Eine Misteltherapie sollte ausschließlich in Absprache und unter Aufsicht eines erfahrenen Arztes erfolgen, der sowohl in der konventionellen Onkologie als auch in der Komplementärmedizin bewandert ist.
- Immer komplementär: Die Misteltherapie ist eine begleitende Behandlung. Sie darf niemals eine etablierte Krebstherapie (wie Chemo-, Strahlen- oder Immuntherapie) ersetzen.
- Offene Kommunikation: Informieren Sie Ihr gesamtes Behandlungsteam (Onkologen, Hausarzt) über die Anwendung der Misteltherapie, um die Sicherheit zu gewährleisten und mögliche Wechselwirkungen zu vermeiden.
- Korrekte Anwendung: Die Präparate werden meist 2-3 Mal pro Woche unter die Haut gespritzt. Eine lokale Rötung und leichte Schwellung an der Einstichstelle ist eine häufige und oft sogar erwünschte Reaktion, die auf eine Aktivierung des Immunsystems hindeutet.
Sicherheitsbox: Risiken und Gegenanzeigen
- Kontraindikationen: Bei bestimmten Krebserkrankungen wie Leukämien, Lymphomen oder dem malignen Melanom raten Experten von einer Misteltherapie ab. Es gibt Bedenken, dass die immunstimulierende Wirkung das Tumorwachstum fördern könnte [2]. Auch bei Hirntumoren oder Hirnmetastasen ist Vorsicht geboten.
- Wechselwirkungen: Vorsicht ist bei der gleichzeitigen Anwendung mit modernen Immuntherapien (Checkpoint-Inhibitoren) geboten, da die Nebenwirkungen möglicherweise verstärkt werden könnten. Die Datenlage hierzu ist aber noch dünn.
- Allergische Reaktionen: Wie bei allen pflanzlichen Arzneimitteln können allergische Reaktionen auftreten, die von Hautreaktionen bis hin zu schweren Allgemeinreaktionen reichen können, was jedoch selten ist.
- Risiko-/Rechts-Hinweis: Die Misteltherapie ist nur als Begleittherapie zur Linderung von Symptomen und zur Verbesserung der Lebensqualität zu verstehen, nicht als krebsheilende Behandlung. Sprechen Sie vor Beginn jeglicher komplementärer Behandlung immer mit Ihrem behandelnden Onkologen.
Fazit
Die Misteltherapie bleibt ein kontroverses Thema in der Onkologie. Während die Hoffnung auf eine lebensverlängernde Wirkung durch hochwertige Studien bisher nicht gestützt wird, gibt es zunehmend solide Hinweise darauf, dass sie die Lebensqualität von Krebspatienten verbessern kann. Indem sie hilft, belastende Symptome zu lindern, kann sie einen wertvollen Beitrag zur mentalen Stärke und zum allgemeinen Wohlbefinden während einer schweren Krankheitsphase leisten. Sie ist jedoch kein Wundermittel und kein Ersatz für die moderne Krebstherapie, sondern eine mögliche Ergänzung im Rahmen eines integrativen onkologischen Gesamtkonzepts.
Hinweis: Dieser Beitrag informiert und ersetzt keine medizinische Beratung oder Behandlung.
Quellen & Forschungsstand
- National Cancer Institute (NCI): Mistletoe Extracts (PDQ®)–Health Professional Version (2024).
Diese Übersicht des US-amerikanischen Krebsinstituts fasst den aktuellen Forschungsstand zusammen und kommt zu dem Schluss, dass die Anwendung außerhalb von klinischen Studien aufgrund der methodischen Schwächen vieler Publikationen nicht empfohlen werden kann.
https://www.cancer.gov/about-cancer/treatment/cam/hp/mistletoe-pdq - Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ): Was ist dran: Mistel in der Krebstherapie (2019).
Der Krebsinformationsdienst des DKFZ analysiert kritisch die Studienlage und betont, dass sichere Aussagen kaum möglich sind. Er verweist auf systematische Reviews, die keine überzeugende Evidenz für einen Überlebensvorteil finden und auf erhebliche methodische Mängel hinweisen.
https://www.krebsinformationsdienst.de/fachkreise/nachrichten/detail/was-ist-dran-mistel-in-der-krebstherapie - Loef, M., & Walach, H. (2020). Quality of life in cancer patients treated with mistletoe: a systematic review and meta-analysis. BMC Complementary Medicine and Therapies.
Diese Meta-Analyse zeigt einen statistisch signifikanten, mittelgroßen positiven Effekt der Misteltherapie auf die globale Lebensqualität von Krebspatienten, weist aber auch auf die hohe Verzerrungsanfälligkeit der eingeschlossenen Studien hin.
https://doi.org/10.1186/s12906-020-03013-3